Katja H., Hospizbegleiterin, Bonn Lighthouse e.V.
Ich übernahm die Begleitung von Melanie* 2012 im ersten Jahr nach meiner Ausbildung zur Hospizbegleiterin.
Sie wohnte in einer Einrichtung der Eingliederungshilfe (früher: Behindertenhilfe), in der Menschen mit kognitiven
und / oder psychischen Einschränkungen betreut werden. Melanie*, damals ca. 60 Jahre alt, hatte neben einer
starken psychischen Beeinträchtigung diverse Erkrankungen. In Folge einer schweren Diabetes hatte sie nur noch
ein Bein und saß im Rollstuhl. Bei meiner Übernahme galt ihre Gesundheit als „stabil“.
„Originell, lustig, streitbar, sehr selbstbestimmt, kindlich, aber mit einem sensationellen Allgemeinwissen ausgestattet – so wurde Melanie* von ihren Mitmenschen
beschrieben. Eine polarisierende, herausstechende Persönlichkeit – gerne rauchend, naschend und einer gesundheitsfördernden Lebensweise trotzend.
Zu dieser Zeit hatten wir bei Bonn Lighthouse, gemeinsam mit Kooperationspartnern, eine Patientenverfügung in einfacher Sprache entwickelt.
Und so habe ich mit Melanie* über ihre Wünsche im Falle einer lebensbedrohlichen Krise gesprochen und diese gemeinsam mit ihrem amtlich bestellten Betreuer festgehalten.
„Melanie* hatte klare, konkrete Vorstellungen von den Inhalten ihrer Patientenverfügung: Sie wünschte sich keinerlei lebensverlängernde Maßnahmen und wollte
auch nicht von Maschinen am Leben gehalten werden. Verbrannt werden wollte sie auch nicht. Die Stofftiere ihrer großen Sammlung sollten gemeinsam mit ihr
im Sarg ruhen, allen voran ihr Liebling „Plumplori“ (lateinisch: Meerkatze).
„Einige Zeit später erlitt Melanie* einen schweren Herzinfarkt, den sie nur um Haaresbreite überlebte. Nach diesem einschneidenden Erlebnis veränderte sich
Melanies* Einstellung zum Sterben: Sie hatte große, große Angst vor dem Tod und wollte unbedingt, dass im Krisenfall alle, wirklich alle lebenserhaltenden
Maßnahmen durchgeführt werden – und dass dementsprechend die Patientenverfügung neu aufgesetzt wird.
Sowohl der Betreuer als auch ich als Hospizbegleiterin berieten Melanie* und erklärten ihr, was mit diesem Wunsch verbunden ist.
Ihre Entscheidung war klar und fest, nach einer Bedenkzeit wurde die Patientenverfügung erneuert.
„Zirka ein halbes Jahr später erkrankte Melanie* so schwer an einer fortschreitenden Atemwegserkrankung, dass sie in ein künstliches Koma
versetzt und über viele, viele Wochen darin gehalten werden musste. Irgendwann stabilisierte sich ihr Zustand, sie konnte langsam zurückgeholt
und ein Atemaufbautraining durchgeführt werden. Nach einigen Monaten durfte Melanie* wieder in ihre Einrichtung zurück.
Ich erlebte sie wesensverändert und agressiver als zuvor, wellenförmig ging es gesundheitlich auf und ab.
„Melanie* erkrankte erneut lebensbedrohlich und kam wieder ins Krankenhaus. Dort hat sie dann lange Zeit – wie man so sagt – „schwer gelegen“
und ist letztendlich auch dort gestorben. Mit dem Leben und Sterben von Melanie* wird die Relevanz einer Patientenverfügung deutlich.
Melanie* hatte ihren ganz festen Willen. In den Momenten, in denen sie wieder zu sprechen in der Lage war, hat sie ihre Entscheidung
mehrfach bekräftigt: Sie wolle am Leben erhalten werden – egal, wie dreckig es ihr ginge. Punkt.
„Ich habe euch diese Geschichte erzählt, weil sie ein gutes Beispiel dafür ist, wie wichtig das Respektieren und Akzeptieren des ausdrücklichen
Willens eines Menschen ist. Das gilt für alle Menschen, unabhängig von einer Beeinträchtigung. Von der Ärzteschaft wurde
Melanies* Wunsch durch die gültige Patientenverfügung voll umfänglich akzeptiert. Seitens pflegender Mitarbeiter:innen
gab es jedoch durchaus Gegenwind und Melanies* Wille wurde immer wieder in Frage gestellt:
...ist die Patientin denn gar nicht beraten worden...?
...wer hat denn diese Scheißverfügung gemacht...?
...die arme Frau leidet doch so...!
...konnte man denn da nicht intervenieren...?
„Für mich als Hospizbegleiterin war das eine sehr bewegende Zeit – und ein innerer Kampf. Hätte man Melanies* Patientenverfügung
wohl auch dann in Frage gestellt, wenn sie nicht beeinträchtigt gewesen wäre und nicht in einer Einrichtung der Eingliederungshilfe
gelebt hätte? Melanies* Wunsch war klar und eindeutig.
Das sollten wir alle respektieren und akzeptieren.
„Sehr viele Menschen haben Melanie* auf ihrem Begräbnis die letzte Ehre erwiesen, das war einfach toll. Und auch noch heute,
mehr als 10 Jahre später, wird in der Einrichtung von Melanie* gesprochen. Sie war so stark, so lustig - und konnte die Menschen
so zur Weißglut bringen. Eine ganz besondere Persönlichkeit, an die ich dankbar und mit höchstem Respekt zurückdenke.
*Melanie hatte in Wirklichkeit einen anderen Namen. Doch den möchte ich den Menschen vorbehalten, die sie gekannt haben.